Neža Vogrinčič in Tokio

Teilnahme an der internationalen Physikolympiade in Tokio. Ein Erfahrungsbericht.

Anfang Juli 2023 hatte ich das Privileg, als eine der 5 qualifizierten österreichischen SchülerInnen an der internationalen Physikolympiade gemeinsam mit etwa 400 Schülern aus nahezu allen Ländern der Welt teilzunehmen. Glücklicherweise für mich war es in meinem letzten Schuljahr wieder die erste klassische Veranstaltung nach einigen Jahren entfallener Wettbewerbe und durch Corona-Pandemie erschwerter Bedingungen. Als Austragungsort der diesjährigen Veranstaltung wurde der für Mitteleuropäer wohl am weitesten entfernte Stück Land über Wasser gewählt, nämlich Tokyo.

Der Physikolympiade-Kurs an der Schule bei Frau Prof. Mag. Julia Scheiber gewährte mir ab dem ersten Jahr einen Einblick in die weniger trivialen, nicht-alltäglichen und faszinierenden physikalischen Phänomene. Dies weckte mein Interesse an einem tieferen Verständnis der Zusammenhänge und motivierte mich dazu, mir allmählich die Kenntnisse in mathematischen Methoden anzueignen und Erfahrungen im Lösen anspruchsvoller Physikaufgaben zu sammeln. Der Weg führte mich über vier österreichweite Qualifikationswettbewerbe, bis hin zu der einzigartigen Gelegenheit, an einem internationalen Großereignis teilnehmen zu können.

Die Reise begann im annähernd kleinsten Ort am Rande Österreichs und führte mit einem Zwischenstopp in Wien und nach etwa 15 Stunden Flugzeit nach Tokio, in die größte Stadt der Welt. Über einen Zeitraum von etwas mehr als zwei Wochen sammelten wir wertvolle Erfahrungen als Touristen und erlebten einige Highlights als Mitglieder einer internationalen Gruppe, die ein besonderes Interesse an Physik teilte. Die erste Woche diente der Verarbeitung des Jet-lags, der Gewöhnung an das heiße Klima und der Erkundung der japanischen Kultur. Die Vormittage waren dem Lösen von Physikaufgaben gewidmet und an den Nachmittagen stiegen wir in die U-Bahn, um die berühmtesten Orte in Tokyo zu besichtigen, wie etwa die wohlbekannte Shibuya-Kreuzung, den Tokyo Sky Tree – das höchste Gebäude der Stadt, um die Metropole aus 450 Metern Höhe zu erleben. Weiters wanderten wir durch die engen Straßen von Tokyo, traditionellen idyllischen Stadtviertel, die größten mehrstöckigen Einkaufzentren, besuchten die populären japanischen Spielhallen, eine Karaokebar, und einige Restaurants mit guter japanischer Küche. Ich war beeindruckt von der bemerkenswerten Sauberkeit selbst in den „dreckigsten“ Stadteilen Tokyos, war fasziniert von der technischen Innovativität und Kreativität an jeder Ecke des täglichen Lebens, von der äußerst höflichen aber völlig natürlichen Art der Japaner im Umgang mit Touristen und auch von ihrer Einzigartigkeit in Bezug auf die Esskultur.      

In der zweiten Woche übersiedelten wir in das National Olympics Memorial Youth Center, den Veranstaltungsort für den Wettbewerb und sämtliche Zeremonien und wo beim Eintreffen auch die Abgabe aller elektronischen Geräte erfolgte. Beim Zusammentreffen der Schüler, der teilweise deutschsprachigen japanischen Guides (hauptsächlich Studenten) der jeweiligen Teams, der Teamleader und uns Schülern am ersten Tag der Woche befanden wir uns in bester Gesellschaft. Ich freute mich über den bereichernden Austausch mit vielen TeilnehmerInnen aus verschiedensten Kulturen und Nationen und erfuhr von den vielfältigen Wegen, die sie alle nach langen Jahren harter Arbeit zu diesem gemeinsamen Treffen geführt haben.

In den kommenden Tagen folgten zwei fünfstündige Wettbewerbe; ein experimenteller und ein theoretischer Teil mit äußerst innovativen und entsprechend anspruchsvollen aber interessanten aneinander aufbauenden Teilaufgaben. Inmitten starker Konkurrenz gelang es mir durch einige korrekte Rechenergebnisse in etwa siebeneinhalb Punkte zu erreichen, was zwar nicht für eine Medaille reichte, aber mir einen respektablen Platz unter den 400 Teilnehmenden verschaffte, was mir persönlich das Vertrauen in meine Fähigkeiten verstärkte und mich zur Vertiefung meines Verständnisses für Physik auf meinem weiteren Weg motivierte.

Der erste Teil des Experiments umfasste das eigenständige Aufbauen eines Experiments mit dem Ziel, die Masse von kleinen Gewichten zu bestimmen. Der massenabhängige Effekt, den wir dabei zunutze machen sollten, war die Resonanzschwingung eines mit zwei Spulen umwickelten und zwischen Gummibändern eingespannten Zylinders, der mithilfe des Gleichstroms geeicht und mithilfe des Wechselstroms in Schwingung versetzt wurde. Nach etwa einer Stunde Aufbauzeit war der Erfolg der Schüler in Form von fast 400 schwingenden Mittelgewichten in dem großen Prüfungsraum hörbar. Die Aufgabe bestand darin, durch Untersuchung der Resonanzeigenschaften des Systems auf einen sinnvollen Zusammenhang zwischen den auftretenden Effekten und Masse zu schließen. Die Problemstellung des zweiten Experiments war die Bestimmung der Dicke eines kleinen Kristallplättchens auf Basis des Phänomens der Doppelbrechung, die aufgrund unterschiedlicher Brechzahlen bei verschiedenen Ausbreitungsrichtungen von Licht entsteht. Der Versuchsaufbau umfasste eine LED als Lichtquelle und einen Photodetektor. Dazwischen sollte man ein System aus Linsen, Polarisatoren und ein Beugungsgitter aufstellen, die alle präzise ausgerichtet werden sollten, um überhaupt aussagekräftige Messwerte zu erhalten.   

Das erste Paket des dreiteiligen theoretischen Wettbewerbs behandelte die mathematische Beschreibung der brownschen Bewegung von mikroskopischen kolloidalen Teilchen. Im zweiten Teil stand die Theorie rund um Neutronensterne im Fokus: Die Stabilität von Atomkernen sowie die Bewegung und die relativistischen Effekte eines Doppelsternsystems. Der dritte und abschließende Teil befasste sich mit der Oberflächenspannung von Wasser. Er untersuchte das Springen von Wassertropfen aufgrund der Verringerung der Oberflächen-Energie und die Berechnung der minimalen Veränderung der Form von Wasseroberfläche bei Berührung mit hydrophoben und hydrophilen Gegenständen.

Als Abwechslung standen an den freien Tagen verschiedene Exkursionen quer durch Tokyo auf dem Programm. Diesmal wurden uns die Destinationen und Traditionen von unserem japanischen Guide und Dolmetscher, der perfekte Deutschkenntnisse besaß, genauestens vorgestellt. Von frühmorgens bis spät in den Abend hinein nutzten wir die einzigartige Gelegenheit, die beindruckenden Ausmaße dieser kulturellen Stadt und dieses besonderen Ereignisses der internationalen Kollaboration zu erfassen. Nach mehreren Stunden Busfahrt befanden wir uns immer noch in Tokyo, durchfuhren steile Straßen in japanischen Wäldern, überquerten auf dem Weg zum Cup-Noodle Museum, der sich neben einem Amüsement-Park befand, eine lange Brücke mit unglaublicher Aussicht auf den weiten Pazifik. Die Destinationen umfassten auch Yokohama China Town mit chinesischem Essen, das National Museum of Nature and Science, Nakamise – eine 250m lange Einkaufsstraße an derer Ende sich Senso-ji befand, Tokios ältester Tempel. Die Reise nach Hakone beinhaltete eine Fahrt mit dem touristischen Piratenschiff über den nur 3000 Jahre alten Ashinoko-See, eine Gondelfahrt über die Landschaft zwischen dem See und unserer nächsten Station: Owakudani – es ist ein vulkanisches Tal mit guter Sicht auf die vulkanische Aktivität, mit austretenden vulkanischen Gasen, dem eindrucksvollen Geruch und den heißen schwefelhaltigen Quellen. Bekannt sind die schwarzen hartgekochten Eier, die in den Quellen gekocht werden und dadurch ihre symbolische Farbe annehmen. Ein Besuch in Nikko, einem Stadtteil nördlich von Tokyo führte uns zu dem traditionellen historischen Dorf aus der Edo-Zeit namens Edo Wonderland und zu den Schreinen und Tempeln im Stadtteil Tosho-gu. Nachmittages organisierte das National Olympics Memorial Youth Center Vorstellungen von erfolgreichen japanischen technischen Unternehmen, ein traditionelles Japanisches Tanzfest mit traditionellen Snacks, eine Teezeremonie, Glücksspiele für die Unterhaltung, Kurse für japanische Schrift, Vorführungen von interessanten physikalischen Experimenten und einiges mehr.

Zusätzlich nahmen wir an den Special Lectures teil, einem besonders bedeutsamen Ereignis, der im Rahmen der Physikolympiade organisiert wurde. Die Vortragenden waren zwei japanische Nobelpreisträger für Physik Dr. Kobayashi Makoto und Prof. Amano Hiroshi. Sie gewährten uns Einblicke in ihren Werdegang und vertrauten uns mit Ihrem Research, welcher Ihnen die angesehene Auszeichnung eingebracht hatte. Prof. Amano bezog sich in seiner Rede auf seine beeindruckende Durchhaltefähigkeit, mit der es ihm nach unzähligen Versuchen gelang, Materialien mit guten optischen Eigenschaften zu entwickeln, wodurch er in 1989 erstmals eine blaue Leuchtdiode herstellte, die später große Fortschritte in Energieindustrie ermöglichte. Prof. Takaaki Kajita untersuchte mit seinem Team die Eigenschaften von Neutrinos in Super-Kamiokande, einem unterirdischen Observatorium, gefüllt mit fünfzig tausend Tonnen Wasser. Er stellte uns die Ergebnisse seiner Messungen vor, mit denen er die Masse der lange als masselos bezeichneten kosmischen Teilchen Neutrino-Oszillationen nachweisen konnte.

An dem Tag nach dem Get-together, bei dem sich die Leader und die Schüler nach vier Tagen wieder zu einem gemeinsamen Essen trafen, fand die Closing-Ceremony satt, wo die Musterlösungen der Aufgaben vorgestellt und die Preisgewinner verkündet wurden. Nach dem letzten gemeinsamen Mittagessen war die Abreise geplant. Wir übersiedelten in ein Hotel und traten am nächsten Tag die Reise zu unserer letzten Destination an. Den allerletzten Tag unseres Aufenthalts in Tokyo verbrachten wir am japanischen Meer und genossen die Ruhe beim kalten Wasser des pazifischen Ozeans, bevor wir uns knapp 24 Stunden später wieder im Direktflug nach Wien befanden.

Das Interesse an dieser Wissenschaftsrichtung, inspiriert durch die Schulphysik, und die davon gesteuerte Bereitschaft, immer höheres Niveau anzustreben, ermöglichte mir im Rahmen der Physikolympiade einige bedeutende Erfahrungen. Der Landeswettbewerb verschaffte mir eine Praktikumsstelle bei einer technischen Firma Anton Paar, der vierzehntägige Training in Wien vor dem Bundeswettbewerb gewährte mir einen ersten Einblick fortgeschrittene Physik, ich erkannte die praktische Anwendung der theoretischen Konzepte bei der Führung durch die Physiklabore der JK-Universität in Linz und während der Besichtigung des großen Teilchenbeschleunigers in MedAustron – dem Zentrum für die Entwicklung neuer Krebstherapieformen mithilfe von Protonen und schweren Ionen. Nach der Qualifikation für den internationalen Wettbewerb bekam ich die Gelegenheit, an einigen bedeutenden Veranstaltungen teilzunehmen, wie dem Empfang im Bundesministerium beim Herrn Minister Martin Polaschek und bei Herrn Landehauptmann Christopher Drexler in Graz, der Teilnahme an der festlichen Wittgenstein-Preisverleihung – der größten österreichischen Förderung –  mit aufschlussreicher Vorstellung der aktuellen Forschungsgebiete der Physik, und schließlich an der internationalen Physikolympiade.

Die ganze Erfahrung war der Höhepunkt meiner schulischen Laufbahn und bot mir eine einzigartige Gelegenheit, mein Verständnis der Physik erheblich zu erweitern und einen Einblick in das globale Ausmaß dieser Wissenschaft zu gewinnen. Die ständig zunehmende Herausforderung der Wettbewerbe und schließlich das Niveau des internationalen Wettbewerbs verdeutlichten mir den grenzenlosen Umfang und das faszinierende Potential der Physik vor Augen geführt und mich letztendlich zum Entschluss gebracht, mein Verständnis für Physik vertiefen zu wollen und mich zukünftig in meinem Studium intensiv der Erkundung der physikalischen Konzepte zu widmen.

Neža Vogrinčič